[Schreibtagebuch] Die Maisfelder – Teil 2

23:13 Unknown 0 Kommentare

Hallo meine Lieben

Hier folgt Teil 2 und mein Kommentar dazu erst am Ende des Textes.


Tags darauf stolzierte Abigail gelangweilt hinter dem Rest ihrer Familie auf ein wunderschönes, weisses Herrenhaus zu. Diese Villa war die Schönste in ganz Lafayette und gehörte einer der einflussreichsten Familien der Stadt, den van Wijgerdens. Aus dieser Familie stammte Mrs. George und sie vergass nie, diese Tatsache zu erwähnen. Ihr Vater, Mr. Van Wijgerden war aus den Niederlanden nach Indiana ausgewandert und lange Jahre Bürgermeister der Stadt Lafayette gewesen. Nun genoss er seinen Ruhestand mit seiner Frau in einer vornehmen Umgebung. Die Besuche bei ihnen waren wie Besuche bei Hofe, keine falsche Bewegung durfte gemacht werden und kein falsches Wort gesagt. Abigail hasste diese Besuche, die trotz aller Proteste jeden Sonntag nach dem Kirchengang zelebriert wurden und sie wusste, dass auch Aurelia und Alec sie hassten. Ihr älterer Bruder fand manchmal eine Ausrede, den sonntäglichen Torturen fernzubleiben, da er immerhin schon auf die dreissig zuging. Die beiden Mädchen aber hatten sich heraus zu staffieren und die Eltern zu begleiten. Mrs. George war in Gesellschaft ihrer Eltern in ihrem Element was das überhebliche Getue anging. Jeder Nachbar wurde ins Gericht genommen und tiefere Gesellschaftsschichten in einem Atemzug durchgekaut. Dabei merkte sie nicht, dass auch der Vater ihrer Kinder aus diesen Schichten stammte. Abigail fragte sich öfters, wie ihr Vater dies anstellte. Jeremy George blieb stets gelassen, rauchte seine Pfeife und schien nicht einmal zu hören, wie seine Schwiegereltern und seine Frau sich echauffierten.
Diesen Sonntag aber erlebte die jüngste Miss George die Zeit in Lafayette besonders schlimm. In ihr nagte noch immer das Gefühl der Kränkung, die ihr gestern widerfahren war. Abigail war wütend. Am Abend im Bett hatte sie zwar alles Aurelia erzählt, die immer auf ihrer Seite war, aber beruhigen hatte diese sie auch nicht gekonnt. Abigail wusste, dass sie sich an dem Assistenzarzt rächen wollte und einen Weg dafür finden würde, doch ihr Gewissen redete ihr auf unheimliche Weise immer wieder drein.

An diesem Sonntag hielt es Abigail kaum aus. Sie bat, kurz an die frische Lust auf die Veranda zu gehen. Aurelia begleitete ihre Schwester. "Lass uns heute Nachmittag ausreiten", bat die Jüngere. "Aber wenn wir nach Hause kommen ist es bereits am eindunkeln und ausserdem zieht wohl ein Sturm auf, hat Papa gesagt.", wandte Aurelia ein. "Aber das alles stört doch beim reiten nicht. Wie lange hast du Grislain schon nicht mehr bewegt?", widersprach Abigail sofort. Dazu konnte Aurelia nichts sagen, da es der Wahrheit entsprach, dass sie ihren geliebten Hengst schon länger nicht mehr geritten hatte. Dies obwohl die beiden durch eine tiefe Freundschaft verbunden waren. "Also lass uns ausreiten.", gab sich die Ältere geschlagen. Und mit einem Blick auf ihre Schwester grinste sie. "Ja ist gut, ich frag die Eltern". Dafür erntete sie eine stürmische Umarmung der temperamentvollen Abigail.
Endlich war die Qual überstanden und die sonntägliche Erleichterung überfiel Abigail, als die Kutsche den Weg auf die Mullberry Farm hinauffuhr. Kaum angekommen, stürzte sich Abigail schon in die Reitkleidung und wartete anschliessend ungeduldig auf ihre Schwester, die alles gemütlicher anging. "Man könnte meinen du wärst nicht schon neunzehn Jahre alt Abby.", lachte diese ihre um Minuten jüngere Zwillingsschwester aus. Doch diese liess sich in ihrem herumwackeln nicht abhalten und erst als Aurelia ihre Haare im Nacken hochgesteckt hatte, liess sie sich dazu überreden, sich vor ihrer Schwester auf den Boden zu setzen. Dies war eine Tradition zwischen den beiden Mädchen. Da Abigail viel zu ungeduldig war, ihre Haare selber zu flechten oder hochzustecken, half ihr Aurelia stets dabei. So auch diesmal, bevor sie sich in die Ställe begaben. Beide Mädchen waren sehr tierlieb und so standen sie eine ganze Weile in den Boxen bei ihren zwei wunderschönen Pferden, um diese zu begrüssen und ihnen Leckereien zuzustecken. Aurelias Pferd Grislain und Abigails Parcival waren Brüder und verstanden sich deshalb ebenso gut wie die Schwestern das taten. Sie alle vier freuten sich, als ihnen die warme Nachmittagsluft um die Ohren wehte, als sie vom Hof ritten. "Du hattest recht Abigail!", unterbrach Aurelia das zufriedene Schweigen und die Angesprochene schaute etwas verwundert, da es selten vorkam, dass jemand diesen Satz zu ihr sagte. Ihre Schwester spürte dies und lächelte. "Ich finde es schön mit dir auszureiten.", erklärte sie und streckte die Hand aus, um Abigails zu drücken. Diese lächelte erfreut. "Ich könnte den ganzen Tag reiten.", meinte sie und merkte, wie rundum wohl sie sich fühle, in Begleitung ihres geliebten Hengstes und ihrer geliebten Schwester. Das Verhältnis der beiden war sehr vertraut trotz den vielen Dingen, in denen sie sich unterschieden. Schon rein äusserlich waren die Mädchen auf den ersten Blick unähnlicher als bei Zwillingen üblich. Aurelia hatte dunklere Haare, ein Haselnussbraun, während Abigails blond waren wie die Kornfelder, denen sie nun entlangritten. "Du warst eigentlich gestern schon ziemlich mutig", kam plötzlich ein überraschendes Kompliment von Aurelia. Erneut schaute Abigail sie erstaunt an. "Du hast dich für mich geschämt, Aury, nicht? Und heute schäme ich mich ebenfalls!", entgegnete sie und die Schwester gab zu, "ein bisschen, ja! Aber ich wäre auch gerne so mutig wie du." "Aber das wirst du bestimmt noch. Ausserdem habe ich nichts davon ausser einer Beleidigung von einem dahergelaufenen Assistenzarzt!", Sie lachte ein wenig bitter und Aurelia hörte aus der Stimme ihrer Schwester, dass diese immernoch gekränkt war. "Aber seine Blicke waren Komplimente an dich", wandte sie ein. Abigail aber schüttelte den Kopf. "Der hatte viel mehr Gefallen an dir. Vorlaute Mädchen mag man nicht." Aurelia war diesmal die Erstaunte, denn so sanft und reuig kannte man Abigail selten. Diese aber wischte die sentimentale Stimmung mit einer ungeduldigen Handbewegung fort. Inzwischen ritten sie an einem der endlosen Maisfelder entlang, auf ihrer rechten Seite ein kleiner Wald, in dem ein steiler Hang abfiel, an dessen Fuss die Maisfelder weitergingen. "Komm, lass uns galoppieren!", rief sie gegen den Wind und grinste Aurelia an. Diese schüttelte den Kopf und wollte warten, bis das Gelände übersichtlicher wurde, doch Abigail hatte Parcival bereits die Sporen gegeben. Aurelia musste wohl oder übel Grislain antreiben um mit ihrer stürmischen Schwester mitzuhalten. Abigail konnte wirklich gut reiten. Die Äste schlugen den Mädchen ins Gesicht, so nahe ritten sie an dem kleinen Waldstreifen, da auf ihrer anderen Seite die endlosen Maisfelder folgten. Gerade hatte Aurelia aufgeholt zu ihrer Schwester.
Da passierte es. Etwas schnellte Grislain ins Gesicht und der sonst so ruhige, graue Hengst schrie auf vor Angst. Er konnte sich nicht beherrschen und stieg auf die Hinterbeine. Aurelias Schreien mischten sich mit seinem wilden Wiehern. Abigail zügelte Parcival sofort, um ihrer Schwester zu helfen, aber auch weil sie deutlich spürte, dass ihr Pferd ebenfalls in Panik auszubrechen drohte. Als sie aber die zehn Schritte zurückritt, war es zu spät. Grislain bäumte sich auf und schlug Parcival seine Vorderhufe entgegen. Er verlor dabei jedoch beinahe das Gleichgewicht und ohnmächtig sah Abigail ihn rückwärts stürzen, seine Augen rollten und waren weiss vor Panik. Schaum stand dem armen Pferd vor dem Mund und den verzerrten Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Zwillingsschwester würde Abigail niemals vergessen. Sie sprang von ihrem Hengst und eilte zu Grislain und seiner machtlosen, verzweifelten Reiterin. Immer wieder griff sie ins Leere, während sie nach seinen Zügeln zu greiffen suchte, doch er kippte mehr und mehr nach hinten und Abigail hatte Angst, dass Aurelia von ihrem Hengst erdrückt werden würde. "Spring ab!", schrie sie panisch, doch hatte sie dabei den Abgrund vergessen. Aurelia liess im selben Augenblick die Zügel los, in dem Grislain das Gleichgewicht endgültig verlor und nach hinten stürzte. Niemals würde Abigail jemandem den Augenblick beschreiben können, die Gefühle die durch ihren Kopf rasten als sie klein und hilflos zusehen musste wie Pferd und Reiterin den Abhang hinabstürzten und zwischen den Bäumen verschwanden. So schnell Abigail konnte, stürzte sie ihrer Zwillingsschwester hinterher, den Abhang hinunter. Ihr Herz schien stillzustehen, weshalb sie weiter funktionierte, hätte Abigail nicht erklären können. Ihre Haare verfingen sich im Unterholz, sie schürfte sich die Arme auf und schlug die Beine an, doch dies schien das Mädchen nicht zu bemerken. Starr hielt sie den Blick auf die reglos daliegende, graue Gestalt am Fusse des Abhangs. Ihre Zwillingsschwester konnte sie nirgendwo ausmachen.


Endlich war Abigail bei den Verunglückten angelangt. Grislain begann sich bereits wieder zu bewegen und sanft drückte das Mädchen seinen Kopf auf den Boden. Sie fürchtete, das panische Pferd könnte in seiner Raserei ihre Schwester noch schlimmer verletzen. Langsam, indem sie jeden Huf des grauen Hengstes einzeln auf den Boden setzte und dann sanft an seinen Zügeln zu ziehen versuchte, um ihn zum aufstehen zu bewegen. Blut lief aus seinem Mundwinkel, doch Abigail wagte nicht, die Verletzung zu untersuchen. Ihre Hände zitterten vor Angst. Angst vor dem, was sie unter dem schweren Pferdeleib vorfinden würde. Als das Pferd endlich stand, stellte die Farmerstochter mit einem einzigen, geübten Blick fest, dass keines seiner Beine gebrochen war, was bei dieser Sturzhöhe alles andere als selbstverständlich war. Schnell band Abigail den verängstigten Grislain an einen Baum und stürzte zu ihrer reglos am Boden liegenden Schwester. Bereits zuvor hatte sie bemerkt, wie seltsam verdreht eines der dünnen Beine ihrer Schwester unter dem Leib ihres geliebten Grislains hervorgeragt war. Nun musste Abigail feststellen, dass der Nacken Aurelias ebenso seltsam verdreht war. Überall war Blut, aus einer Kopfwunde blutete das zarte Mädchen besonders stark. Abigail war völlig starr vor Angst und die Situation drohte sie ohnmächtig werden zu lassen. Was sollte sie tun? Nichts in ihrer Erziehung, kein Streit mit ihrer Mutter hatte sie auf eine solche Situation vorbereitet. Tränen verschleierten Abigails Blick und sie versuchte mit leichtem Schütteln, ihre verletzte Schwester dazu zu bringen, sich zu rühren, mit ihr zu reden und zu ihr zurückzukehren. Dann wusste Abigail, dass sie trotz all der Selbständigkeit, die sie immer zu wahren versuchte, mit dieser Situation nicht alleine zurechtkam. Schnell, ohne Rücksicht auf ihre feinen Reitkleider oder darauf, dass ihre Hände zu schmerzen begannen, kroch sie auf allen vieren den steilen Abhang wieder empor zu ihrem geduldig wartenden Pferd. Obwohl Abigail eine Reiterin war, die es liebte frei und ungebremst auf dem Pferderücken dahinzustürmen, war sie noch nie so schnell galoppiert. Mit Händen und Füssen trieb sie Parcival zum Äussersten an und dieser schien genau zu begreifen, dass es sich um einen Notfall handelte. Das treue Pferd gab alles und so waren sie auch rasch wieder auf der Farm. Im Hof wäre Abigail vor Erschöpfung beinahe vom Pferd gefallen, mit letzter Kraft hielt sie sich auf Parcivals Rücken, als der alte Stallknecht und Pförtner Percy über den Hof gehumpelt kam. „Was ist denn in Sie gefahren Miss? Und wo haben Sie Miss Aurelia gelassen?“, erkundigte er sich und seine Augen strahlten warm, wie immer wenn er mit einer der Zwillingsschwestern redete. Niemand wusste genau, woher Percy kam und auch sein fortgeschrittenes Alter kannte niemand auf die Zahl, doch alle, mit Ausnahme der Hausherrin mochten den einfachen, lustigen Mann. „Es ist ein Unfall passiert! Du musst mitkommen“, keuchte Abigail mit letzter Kraft und liess sich erschöpft vom Pferd helfen. In diesem Augenblick kam auch ihr Vater über den Hof geschritten und erkundigte sich nach den Geschehnissen, doch Percy holte bloss schweigend drei frische Pferde, während Abigail mechanisch ihren Parcival abrieb und im Hof herumführte. Am liebsten wäre sie sofort wieder losgeritten und sie war froh, konnte sie ihren Hengst einem anderen Stallknecht überlassen, der ihn fertig versorgte. Das Mädchen bemerkte nicht einmal, welches Pferd sie ritt, wie ferngesteuert zeigte sie ihrem Vater und Percy die richtige Richtung und erzählte stockend dabei alles was sie wusste. Als sie sich selber zuhörte, kam es ihr vor, als rede eine Fremde neben ihr. Abigail konnte nur an Aurelia denken, etwas anderes nahm sie nicht wahr.
Auf einem Umweg gelangten die drei Reiter, die ritten, als hätten sie einen Geist gesehen, an die Stelle, wo Grislain noch immer versört seine Hufe wieder un wieder in den Boden rammte und schrill wieherte, als die Pferde mit ihren Reitern sich näherten. Abigail hoffte, dass der Hengst sich nicht selber noch schlimmer verletzte und war froh, dass sie ihn weit genug von ihrer verletzten Schwester angebunden hatte, da er sie sonst in seiner blinden Wut hätte verletzen können.
Jeremy George stürzte sofort auf das reglose Mädchen auf dem Boden zu. Erneut fiel auf, wie schmächtig und zart ihre grosse Schwester, die ja doch nur um Minuten älter war, war. Dies war schon immer so gewesen, doch nun, als sie so seltsam verdreht und blass wie eine Puppe auf dem Boden lag, kam sie Abigail so schrecklich unwirklich vor. Und genau das wünschte sich das Mädchen. Dass alles nur ein böser Traum war. Doch ein Ausruf ihres Vaters, dem ein unmenschliches Schluchzen folgte, liess Percy, der sich um Grislain zu kümmern versuchte und Abigail zu dem knieenden Farmer eilen. „Aurelia ist tot!“, Jeremy George spuckte diesen Satz regelrecht aus und er würde für den Rest ihres Leben in Abigails Kopf festgebrannt sein. Sie war überzeugt, dass dies nicht möglich war. Ihre Schwester war erst neunzehn Jahre alt und sie waren doch Zwillinge. Eine von ihnen alleine konnte nicht fortgehen. Sie gehörten zusammen. Sie waren zusammen auf die Welt gekommen, hatten Hand in Hand laufen gelernt und sich gemeinsam mit ihrer Mutter gestritten, waren gemeinsam vom Pferd gefallen. Und nun sollte Aurelia also tot sein. Die Tränen, die noch immer unaufhaltbar über Abigails schönes, aber ebenfalls entsetzlich bleiches Gesicht flossen, tropften ungehört ins Gras. Ihre Hand lag schwer auf der Schulter ihres Vaters, weniger um ihn zu beruhigen, als um zu verhindern, dass sie nicht umkippte. Percy hatte noch nichts gesagt und das tat er auch jetzt nicht, als er schweigend den kleinen Leichnahm aufhob. In seinen starken Armen wirkte Aurelia noch kleiner, und dieser Anblick brachte Abigail dazu, laut aufzuschluchzen. Ihr Vater ging mechanisch zum Pferd zurück. Das Mädchen hätte sich gerne an seiner Schulter versteckt, doch das letztemal dass sie das getan hatte, war Jahre her. Auch Parcival, der sie immer verstand, war nicht hier. Und Aurelia, die Einzige, der sie alles hatte anvertrauen können, die sie trotz ihrer manchmal verrückten Ideen immer geliebt und unterstützt hatte, Aurelia sollte nun tot sein. Was ihre Mutter oder sonst irgendjemand dazu sagen würde, überlegte Abigail in diesem Augenblick nicht. Für sie zählte nur, dass Aurelia tot war, auch wenn sie mit ihrem Wesen nicht erfassen konnte, was dies bedeutete.


Diesen Text nochmals zu lesen, hat mich selber berührt. Wenn ich Texte lang liegen lasse, kann ich sie betrachten, als wären sie von jemand anderem geschrieben worden. Und bei diesem weiss ich nicht, ob ich es gut finden soll oder nicht. Stimmt die Logik überall? Mag ich die Charaktere? Was ist das für eine Story, bei der ich jemanden sterben lasse? Ist es mir gelungen? Danke für euer nettes Feedback!

Eure Tintenhexe

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