[Frühsommerprinzessin] Kapitel 1
Kaptiel
1
In
ihrer unbeschwerten Kindheit hatte sich Thora nie gefragt, ob etwas
mit ihr nicht stimmte. Sie war geboren worden in die Familie eines
einfachen Landbarons. Dieser hatte gerne und viel gelacht, ebenso wie
seine Gattin und so hatten Thora und ihre beiden Schwestern eine
unbeschwerte Zeit gehabt. Sorgen kannte im Umkreis des Gutes ihrer
Familie niemand. Auch in schweren Zeiten wurde die einfache
Bevölkerung aus den Speichern des Barons versorgt. Im Gegenzug dazu
lieferten diese gerne ihren Zehnten jedes Jahr an den Baron ab. Thora
lernte zu schätzen, dass jeder sie mochte. Mit ihren Schwestern
Amira und Regina verband sie das tiefe Band der Geschwisterliebe und
das Mädchen war stets überzeugt gewesen, dass nichts und niemand
dieses Band zerreissen konnte. Sie spielten stets zu dritt, am
liebsten in Feld und Wald und ihre Gouvernante klagte fast jeden Tag
verzweifelt der Baronin ihr Leid über die ungebärdigen Mädchen und
ihre zerrissenen Kleider und schmutzigen Schuhe. Diese jedoch fand
stets auch für diese Probleme ein Lachen und kaufte ihren drei
Kindern neue Sachen, wenn die alten nicht mehr tragbar waren. Es
scherte sie auch wenig, dass die Leute im Dorf kaum ärmlicher
gekleidet waren, als ihre Töchter, denn sie hatte längst
aufgegeben, sich darüber zu ärgern, dass ihre Mädchen nicht
aussahen wie die Töchter eines Barons. Dies würde sich noch früh
genug ändern und bis dahin gönnte sie Thora, Regina und Amira die
wilde Freiheit ihrer Kindertage.
Zwei
Ereignisse sollten Thoras Leben grundlegend verändern. Ihre älteste
Schwester Amira, die stets ihr grosses Vorbild gewesen war und der
Regina und sie stets nachgeeifert hatten, starb. Ein schweres Fieber
holte sie in einer dunklen und kalten Winternacht zu sich und die
beiden zurückbleibenden Schwestern konnten nicht glauben, dass sie
nun niemals mehr zusammen im Baumhaus spielen oder im See schwimmen
würden. Regina und Thora hatten einander, um sich festzuhalten und
zu trösten. Trotzdem fiel eine jede von ihnen in ein tiefes Loch der
Trauer und der Verständnislosigkeit. Thora, die zu diesem Zeitpunkt
gerade mal zwölf Winter gesehen hatte, wurde verschlossener, als sie
zuvor gewesen war, plötzlich trat ein schüchternes Mädchen
anstelle des fröhlichen Kindes, das sie zuvor gewesen war. Regina
hingegen, die erst neun war, verstand die Welt noch weniger und
suchte besonders Schutz bei Thora, die sich stets mühte, die
Schwester im Strudel ihrer eigenen Trauer nicht zu vergessen.
Manchmal blieben nicht einmal die Nächte für sie alleine, denn
Regina litt nun häufig unter Albträumen und kam dann zu Thora ins
Bett, wo sie viel Platz für sich beanspruchte und ihrer grossen
Schwester so den Schlaf raubte. Diese hörte deswegen allerdings
nicht auf, Regina abgöttisch zu lieben. Doch in Nächten, in denen
sie alleine war, schlich sie sich aus dem grossen Herrenhaus um mit
sich alleine zu sein. Seltsame Veränderungen gingen in ihr vor, die
sich das Mädchen nicht erklären konnte. Der Drang, nach draussen in
die Natur zu flüchten wurde von Tag zu Tag stärker. Verunsichert
gab Thora diesem Verlangen nach, obwohl sie sich seit Amiras Tod in
den Mauern des Gutes sicherer fühlte als im Garten, wo sie so viele
schöne Stunden zu dritt verbracht hatten.
Diese
widerstrebenden Gefühle setzten Thora mehr und mehr zu. Oftmals fand
sie sich nachts im Garten wieder, ohne zu wissen, wie sie dahin
gelangt war.
Doch
eines Nachts war sie wieder im Garten „Aufgewacht“ und sah im
Mondschein den alten Apfelbaum, an dem nun reife Früchte schwer die
Äste gen Boden zogen. Es gelüstete das Mädchen nach einem dieser
Äpfel und so ging sie hinüber. Der Baum lag direkt an dem kleinen
Teich, in den früher beim Spielen sowohl Amira und Regina als auch
Thora des Öfteren hereingefallen waren. Er war nicht tief und jetzt
im Mondschein lag er da wie ein glatter Spiegel. Als sich Thora dann
zu den untersten ästen des Apfelbaumes reckte, konnte sie diesen
nicht erreichen, obwohl er allerhöchstens in Brusthöhe eines
erwachsenen Menschen aus dem Baumstamm spross. Das Mädchen stützte
sich am Baumstamm ab und versuchte erneut, den Apfel zu erreichen.
Dann sprang und hüpfte sie mehrmals hoch und es gelang ihr
tatsächlich, die Frucht zu berühren, doch als sie versuchte, ihre
Finger um ihre Beute zu schliessen, glitt sie erfolglos ab und fiel
zu Boden. Genervt schüttelte sie sich und rappelte sich wieder auf.
Ein erneuter Versuch scheiterte ebenso kläglich. Erneut stützte
sich Thora am knorrigen Baumstamm ab, dieses Mal mit beiden Händen.
Mehr flüchtig und zufällig als bewusst glitt ihr Blick über die
Stelle, an die sie ihre Hände gelegt hatte. Die Rinde fühlte sich
seltsam weich an, so als ob ein Tuch um den Baum gewickelt wäre.
Aber da war nichts als die nackte Borke und als Thora noch einmal
diese Stelle musterte, zuckte sie zurück und vor Schreck fiel sie
hinterrücks ins Gras. Dann hielt sie sich erneut die Hände vors
Gesicht und gleichzeitig fiel ihr auf, dass ihr Blick viel schärfer
war, als zuvor. Sie erkannte kleine Insekten in der Baumkrone, die
doch ziemlich weit entfernt war. Nie zuvor hatte sie sich um diese
kleinen Wesen gekümmert, weil sie sie nicht sehen konnte. Doch jetzt
war alles scharf, wie wenn man Kopfschmerzen hatte und das Licht in
den Augen brennt. Doch Thora tat nichts weh ausser dem Rücken, den
sie sich bei ihrem Sturz ein wenig gestossen hatte. Dann
konzentrierte sie sich auf ihre Hände, die sie direkt vor ihr
Gesicht gehoben hatte. Doch da wo sie lange, schlanke Finger erwartet
hatte, erblickte das Mädchen Pfoten. Sie glänzten gelb bräunlich
im Mondlicht und sahen ähnlich kuschelig aus, wie diejenigen, die
Thora gesehen hatte, als sie als kleines Mädchen die Prinzessin von
Tamuilan besucht hatte. Diese hatte Stofftiere auf ihrem Bett
aufgestellt gehabt und dort hatte Thora zum ersten Mal solche Pfoten
entdeckt. Nun berührte sie mit einer Hand die andere oder eben mit
einer Pfote die andere. Noch immer konnte sie nicht verstehen, was
mit ihr geschehen war. Warum fühlte sie sich nicht seltsam, wo doch
ihre Hände so seltsam geworden waren? Als sie die eine Pfote mit der
anderen etwas fester drückte, sprangen vorne aus den Kuppen
plötzlich wunderschön gerundete Krallen heraus. Thora zuckte
zusammen. Mit einem Schrei wich sie zurück, doch es war nicht
möglich, vor sich selber zurückzuweichen und so waren die
unheimlichen Hände noch immer da, als das Mädchen die zugekniffenen
Augen öffnete.
Ungeschickt
rappelte sie sich auf und erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht
mehr nur auf zwei, sondern auf vier Füssen oder eben zwei Füssen
und zwei Händen ging. Verwirrt legte sie die letzten Meter bis zu
der spiegelglatten Fläche des Teichs zurück. Der Mond spiegelte
sich darin und Thora trat ganz nahe an den Rand, um ihr eigenes
Spiegelbild zu erblicken. Was sie sah, bestätigte ihren unheimlichen
Verdacht, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung war. Das Spiegelbild
zeigte nämlich nicht das magere, blonde Mädchen im weissen
Nachthemd, sondern die leicht golden schimmernde Gestalt eines
Luchses.
Langsam
hob sie die linke Hand, die jetzt in einer ihr unbekannten Pfote
steckte, und berührte sich an der Stirn. Ihr Spiegelbild tat
dasselbe. Dann beugte sie sich vor, um das Wasser mit der Nase zu
berühren und das Bild auf der spiegelglatten Oberfläche kam
ebenfalls näher und näher. Offensichtlich war das sie, in dieser
seltsamen Gestalt. Thora spürte das Bedürfnis, zu weinen. Was war
mit ihr geschehen? Würde sie nie wieder in ihren Mädchenkörper
zurückfinden? Wo war dieser bloss abgeblieben? Man würde sie mit
Sicherheit verstossen, wenn sie als Luchs versuchen würde, ins Haus
zu gelangen. Oder ihr schlimmeres antun. Bei diesem Gedanken stöhnte
Thora verzweifelt auf, doch es war kein menschliches Geräusch, das
schliesslich aus ihrer Kehle drang und so begann sie leise zu weinen,
was sich ebenfalls erschreckend anhörte. Unter dem Apfelbaum kauerte
sie sich zusammen, so gut dies in ihrem neuen Körper ging und sass
dort für Stunden, bis sie an ihrer Umgebung, am heller werdenden
Licht des Tages und am Zwitschern der Vögel, bemerkte, dass der Tag
heraufzog. Nicht mehr lange, und man würde sie bemerken. Niemand war
da, der ihr helfen konnte und bald würde die Dienerschaft in Haus
und Hof geschäftig herumwuseln und sie dann schliesslich bald an
ihre Eltern ausliefern. Erschöpft lehnte sich das Mädchen im Körper
eines Luchses an den Baumstamm und konnte nach einer Weile trotz
erster Geräusche, die vom Herrenhaus zu ihr hinausdrangen, nicht
verhindern, dass ihre Augen zufielen und sie einschlief.
Thora
fand sich wieder in ihrem Bett, ohne Gefühl für Zeit und Raum. Ihre
Augenlider waren schwer und hinter ihrer Stirn brannten heftige
Kopfschmerzen. Unfähig, sich zu rühren, lauschte sie bloss auf die
Geräusche aus ihrer Umgebung. Alles drang nur gedämpft an ihr Ohr
und erst langsam, nach und nach, realisierte das Mädchen wieder, was
geschehen war. Dann riss es erschrocken die Augen auf, hob die Hände
und liess sie schliesslich erleichtert zurück auf die weiche
Bettdecke fallen. Sie steckte wieder in ihrem normalen Körper. War
das alles vielleicht bloss ein böser Traum gewesen? Erneut hob sie
die Lider und blinzelte, als ihr bewusst wurde, dass es heller Tag
war und die Sonne mit voller Kraft durchs Fenster hineinschien.
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